Zugegeben – in der Vergangenheit war ich, was die Carbonara betrifft, ein Dogmatiker. Man könnte sogar sagen, dass mich die echte Carbonara (mit den wahren Zutaten und authentisch zubereitet) zu meinem derzeitigen Job als Privatkoch gebracht hat. In der Tat war es so, dass mich, nachdem ich eine Carbonara ohne Schlagobers zubereitet hatte, ein Stammkunde des Restaurants, in dem ich damals arbeitete, fragte, ob ich nicht bei ihm zu Hause ein kleines privates Abendessen kochen wolle…

Und so hielt ich es als gebürtiger Römer, der im Ausland lebt, lange Zeit für eine Ehrensache, ein echtes Identitätsmerkmal, die „wahren traditionellen Rezepte“ meines Landes zu kennen. Und doch hätte es mir eine Warnung sein müssen, dass in einem Restaurant, in dem ich arbeitete, ein Gericht bei den Kunden recht beliebt war: „Spaghetti alla ciociara“. Also theoretisch ein Rezept aus meiner Provinz, von dem ich noch nie in meinem Leben gehört, geschweige denn es je gegessen hatte. Am wahrscheinlichsten ist, dass irgendein Koch aus meiner Gegen Jahre zuvor in dieser Küche gearbeitet hat und dass das von ihm „erfundene“ Gericht (Spaghetti mit Kirschtomaten, Sardellenfilets, Pecorino-Käse und Petersilie) dann diesen Namen behalten hat.

Mit dem Erwachsenwerden, lernt man dazu, studiert die Rezepte und beginnt besser zu verstehen, dass eine „Tradition“, besonders in der Küche, oft das Ergebnis einer Erfindung ist (Hobswann docet). Die historische Forschung – die sich glücklicherweise nicht nur mit Kriegen und Diktatoren beschäftigt, sondern auch mit dem, was in den Küchen passiert – findet fast keine Spuren von „traditionellen“ italienischen Rezepten. Anders in den letzten Jahren, und es ist leicht zu verstehen, warum: Noch vor fünfzig Jahren aßen die Menschen ganz anders.

Ein Blick in das erste und berühmteste Kochbuch der italienischen Küche von Pellegrino Artusi (Erstausgabe von 1891) wird Sie überraschen: Sie werden fast keines der Rezepte finden, die wir heute als Klassiker der italienischen Küche kennen. Es gibt keine „Amatriciana“ (die das älteste der berühmten Rezepte der „römischen Tradition“ zu sein scheint), es gibt keine „Cacio e pepe“ und es gibt nicht einmal die legendäre „Carbonara“, die das jüngste der „traditionellen“ Rezepte Roms zu sein scheint (wahrscheinlich stammt es aus der Zeit nach der Befreiung Roms  1944, aber es ist das am wenigsten nachvollziehbarste der römischen Rezepte – denn nicht einmal der Name wurde ausreichend erklärt).

Guanciale: Im Luft getrockneten Schweinsbacken

Es gibt wenige Themen, abgesehen von Fußball und Politik, über die in Italien so lebhaft diskutiert wird wie über die Carbonara. Und auch ich glaubte in der Vergangenheit, die „Wahrheit“ über die Carbonara zu kennen. Als Verfechter einer These, die keine Abweichungen zulässt, zögerte ich nicht, mit größtmöglicher Verachtung auf diejenigen loszugehen, die Bauchspeck statt „Guanciale“ verwendeten (noch schlimmer war Räucherspeck!), oder auf diejenigen, die aus dem Eiern ein Omelett machten, oder diejenigen, die sogar Butter dazugaben oder – noch schlimmer – Schlagobers! Wenn man jedoch beginnt, tiefer einzutauchen, entdeckt man, dass Kochen keine exakte Wissenschaft ist – auch wenn die Wissenschaft in der Küche sehr nützlich ist (wenn man zum Beispiel weiß, dass Eigelb und Eiweiß bei unterschiedlichen Temperaturen gerinnen, sollte man nur ersteres verwenden, um sich das Leben nicht zu schwer zu machen).

Rezepte sind nicht starr, in Stein gemeißelt und unveränderlich, wie es eine gewisse Orthodoxie gerne hätte. Die Menschen tauschen sie aus und passen sie ihrem eigenen Geschmack und ihren Lebensumständen an (Sie haben keinen Guanciale mehr, aber Sie haben Bauchspeck zu Hause?). Meine Oma zum Beispiel hasste Käse und so war ihre Carbonara ohne Käse! In modernen Kochbüchern findet sich die Carbonara, die wir heute für „echt“ halten, erst in den 80er Jahren wieder. Der größte Neuerfinder der italienischen Tradition, Gualtiero Marchesi, hatte genau das getan: Er hatte viele traditionelle Rezepte genommen und sie auf der Grundlage moderner Erkenntnisse und Kochtechniken und des Geschmacks, der mehr mit dem zeitgenössischen Lebensstil harmoniert, neu erfunden:  und so wurde Vitello Tonnato zu einem Braten statt zu gekochtem Fleisch, Risotto wurde ohne Zwiebeln angeröstet (und manchmal sogar gekocht, indem man es mit kochendem Wasser statt mit Brühe übergoss). Und… Carbonara wurde – aufgrund seiner Liebe zur französischen Küche – noch in den 1980er Jahren vorgeschlagen, indem man zu den heute als korrekt erachteten Zutaten (Guanciale, Pecorino Romano, Eigelb, schwarzer Pfeffer) sowohl Butter als auch Schlagobers dazu gab!

Gualtiero Marchesi


Der Geschmack verändert sich, das Wissen über Lebensmittel ändert sich, Rezepte passen sich an und vermischen sich. Auch die Carbonara wird sich verändern, wenn sie bestehen bleibt. Wenn wir daran denken, dass Spaghetti jahrhundertelang „in bianco“ (weiß) gewürzt wurden, bevor sie mit Tomaten kombiniert wurden, so werden wir nachsichtiger sein, wenn jemand neue Zutaten in eine Carbonara geben will. Heute mögen wir eher eine Carbonara ohne Schlagobers, trotzdem cremig (was die Umsetzung des immer gleichen Gerichts nicht gerade erschwert), mit Guanciale und ohne Speck und ohne zusätzliches Fett abgesehen vom Fett des Guanciales.  Aber wer weiß wie das in 20 Jahren sein wird?

Bibliografische Anmerkung

Vielen Dank an Gerda Genzl für ihre Hilfe bei der Verbesserung meines Deutsch

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